„Bayern fehlt es an Know-How bis hoch in die Spitze“

Der Münchner Merkur hat ein Interview mit unserem Experten in Sachen Fußballtraining David Niedermeier geführt. Darin erklärt er, warum es für den FC Bayern trotz eines neues, 70 Millionen teuren Nachwuchsleistungszentrums schwer ist, Talente heranzubilden.

Das Interview führte Andreas Werner

Herr Niedermeier, was bringt der neue Campus?

In erster Linie kann man ein paar Talente mehr und früher holen. Die Infrastruktur war nicht Up to Date. Ich habe selbst mal die U11 bei Bayern trainiert – es war einfach alles zu eng an der Säbener Straße.

Alles wartet auf den neuen David Alaba. Ist es schwerer geworden, beim FC Bayern durchzustarten?

Auf jeden Fall. Der FC Bayern gehört zu den drei besten Vereinen der Welt, von der Nr. 1 bis zur 20 hat da jeder einen Marktwert von 30 bis 70 Millionen Euro. Das sind Spieler, die am Zenit sind, alle um die 26, 27, bestes Fußballeralter. Da hast du Erfahrung, Muskulatur, Ruhe am Ball, egal in welchem Hexenkessel – und da soll nun ein 17-, 18-Jähriger besser sein? Der kann diese Persönlichkeit ja nicht haben. Der FC Bayern ist kein Ausbildungsverein, kann er gar nicht sein. Wenn man da ein Talent für die Stammelf sucht, muss man es weltweit suchen.

Karl-Heinz Rummenigge und Uli Hoeneß wünschen aber, dass mit dem Campus jedes Jahr ein Talent zu den Profis stößt.

Es muss ihnen eigentlich klar sein, dass sie das nicht hinkriegen. Die Bayern tun sich mit so etwas keinen Gefallen. Sie sollten sich an solchen Quoten gar nicht messen lassen. Sondern daran, wie viele Talente sie für den Profifußball ausbilden – die man per Leihvertrag auch wieder zurückholen kann. In Hoffenheim ist es für einen Niklas Süle leicht, in die erste Elf zu rücken. Der Vergleich hinkt da, weil er bei Bayern definitiv nicht die Möglichkeit gehabt hätte. Ich glaube aber, dass es da bald einen Wandel gibt.

Inwiefern?

Die anderen pumpen so viel Geld in den Markt – England, China, da werden die Bayern bald keine Megastars mehr haben. Dann wird die Chance für Talente größer. Schauen wir schon jetzt auf die Außenbahnen: Alle Kandidaten sind Bayern zu teuer. Sie müssen da selber produzieren, zwangsläufig. Im deutschen Fußball wird man umdenken müssen. Wir werden ein Ausbildungsland. Früher waren das die Niederländer für uns. Jetzt kauft England, und wir bilden aus.

Damit verbunden wäre aber ein Qualitätsverlust, weil ein Talent einen Top-Star nicht 1:1 ersetzt.

Zunächst ganz sicher.

Sie erwarten eine Delle im deutschen Fußball?

Im Gegenteil. Wir werden keine Megastars mehr in der Liga haben, das bedeutet Platz für Talente. Die werden zwar bald – siehe Leroy Sané – weggekauft, aber für die Nationalelf ist das kein Problem, wenn diese Spieler im Ausland reifen. Immer vorausgesetzt, die Vereine bauen auf deutsche Talente und suchen ihr Glück nicht mit überteuerten Profis aus dem Ausland, die bei den Top-Klubs durchgefallen sind.

Für die Nationalelf ok, für den FC Bayern ist das eine düstere Prognose. Der hat den Anspruch, das Finale der Champions League zu erreichen und zu gewinnen.

Ich denke, das wird auf Jahre hinaus nicht mehr passieren. Bei normalem Verlauf. Die Bayern verfuhren immer super: Jedes Jahr zwei Top-Stars, dazu Spieler wie Süle und Sebastian Rudy, die sich hinten anstellen. Die Mischung stimmte. Nur bekommen sie die Stars in Zukunft nicht mehr. Wobei die Briten zum Beispiel noch wild einkaufen. Und wenn du fünf, sechs Top-Spieler mit riesigem Ego im Kader hast, gefährdet das den Erfolg. Der Teameffekt ist für die Katz’. Sie machen bisher den Markt kaputt, sonst nichts. Aber ich denke, sie werden bald dazulernen. Pep Guardiola macht es mit Manchester City schon jetzt richtig. Er wird die nächsten Jahre dominieren, da bin ich überzeugt.

Leipzig, Hoffenheim, Dortmund, Schalke gelten als stilbildend in der Juniorenarbeit. Hat Bayern eine Entwicklung verschlafen?

Diese Vereine hatten schon früher ein besseres Leistungszentrum und damit einen größeren Sogeffekt für Talente. Sie haben schon früher mehr Geld in dem Sektor investiert. Und sie legen mehr Wert auf die Individualisierung. Bayern macht Suppentraining. Da ist es bei wenigen Trainern für ein Team ja gar nicht drin, korrigierend individuell einzugreifen. So wird ein Bayern-Talent in seinem Bereich nicht zu dem Spezialisten wie zum Beispiel bei Hoffenheim. Da fehlt es den Bayern noch an Know-How – meiner Meinung nach übrigens bis hoch in die Spitze bei den verantwortlichen Personen.

Können Sie diese Kritik konkretisieren?

Es will ja keiner hören in dieser sensiblen Branche – aber ich traue mich zu sagen, dass bei Bayern Potenzial offen liegt. Ein Talent sollte von Beginn an bestmöglich betreut werden, es sollte einen Karriereplan geben. Wenn ein Talent zum Beispiel beim Sprung in den Profibereich ein halbes Jahr auf der Bank sitzt, ist das tödlich. So ein Bruch wie bei Lukas Scholl oder Gianluca Gaudino, die irgendwo dazwischen mitgeschwommen sind, das zerstört ein Talent, seine Tiefenmuskulatur genauso wie seine Psyche.

Wie sieht individuelles Training idealerweise aus?

In jungen Jahren muss ganzheitlich ausgebildet werden. Positionsspezifisch arbeiten wir ab 13, 14 Jahren. Ein Stürmer zum Beispiel braucht bei einer Flanke eine hohe Quote. Also trainieren wir mit ihm in einer Stunde mal 300 Flanken. Im Suppentraining hat er vielleicht 30 brauchbare die Woche. Ein Innenverteidiger erlernt nur den gescheiten Aufbau, wenn man das übt. Da geht es auch darum, Vertrauen in das zu bekommen, was man tut. Wenn ich etwas übe, übe, übe, habe ich einen Automatismus, auf den ich mich mental verlassen kann. Misslingt mir mal ein Pass, weiß ich: Normal habe ich da eine 9er Quote.

Wie viele Trainer pro Team wären ideal?

Man muss das nicht nur technisch, sondern auch athletisch trennen. Aber nie komplett, es ist ja ein Teamsport. Pro Woche zwei Mal ein individuelles Training würde zunächst ausreichen. Pro Team zwei Technik- und zwei Athletiktrainer sind ab einem gewissen Alter optimal. Ich habe das durchgerechnet: Würde der FC Bayern pro Jahr zweieinhalb Millionen in Personal investieren, hätte er die optimale Grundlage. Sie wollen Maschinen, aber dafür geben sie zu wenig Geld aus.

Worauf kommt es bei der Talentförderung an?

Um es runterzubrechen: Ein Talent zu erkennen, ist das A und O: Ich lese jetzt, Bayern hat einen 13- und 14-Jährigen von Hertha geholt. Sind die biologisch so weit oder fußballerisch? Oft heißt es: „Der ist super, setzt sich durch, schießt Tore – den musst du holen!“ Und dann wird der später vom Rest geschluckt, die Bezirksligen in München sind voller solcher Ex-Talente. Kurioserweise holen die Vereine aber genau solche Talente, weil sie mit ihnen gewinnen. Das sind falsche Mechanismen. Bayern müsste sagen, uns interessiert von der U?16 abwärts nur, die Talente einzusammeln – Gewinnen spielt erst später eine Rolle. So aber blockieren biologisch weit Entwickelte die Plätze für die, die später reifen. Da fallen Jahre große Talente durch den Rost, weil man mit stumpfen Parametern misst.

Beispiele?

Gibt es genug. Man spricht vom „Relativ Age Effekt“. 85 Prozent aller Spieler in den Nachwuchsleistungszentren sind im Januar, Februar, März geboren. Vereine lassen sich da blenden. Sie suchen Spieler, die biologisch in der Entwicklung voraus sind. Natürlich gewinne ich mit diesen Spielern. Aber sie sind vielleicht gar keine Talente, weil sie sich oft nur aufgrund ihrer körperlichen Fähigkeiten behaupten. Mario Götze wurde als Übertalent bewertet. Nicht falsch verstehen: Wir reden hier über das Top-Niveau, Götze ist ein Mega-Kicker – aber er ist nicht so schnell wie Thiago. Sein Talent ist nicht so groß, wie viele gedacht hatten. Hätte man bei ihm auf die biologischen Parameter geschaut, hätte man gesagt: Okay, klar wird er Profi – aber er wird nicht der allerbeste Mittelfeldspieler, den es je auf der Welt gegeben hat. Ich frage die Jungs immer: Wie verrückt seid Ihr? Geht Ihr auch bei Schnee und Hagel auf den Platz – oder lieber an die Pommesbude? Am Ende setzt sich der Beharrliche durch. Denn irgendwann schlägt der Charakter das Talent, das ist so.

Wer ist für Sie der perfekte Spieler?

Man darf da nicht pauschalisieren, aber der perfekte Fußballer ist für mich Toni Kroos. Er vereint alles. Andres Iniesta würde ich auch noch nennen. Kroos ziehen zu lassen, gerade in dem Moment, als er von 22 bis 26 gereift war und kurz vor seinem Maximum stand, war der größte Fehler des FC Bayern jemals. Rummenigge und Hoeneß haben nicht erkannt, wie gut dieser Junge ist.

Wer sind bei Ihren Kids heute die größten Stars?

Thomas Müller, Robert Lewandowski, Arjen Robben, David Alaba, und bei den Torhütern allesamt Manuel Neuer.

Wie ist Müller aus Sicht eines Ausbilders zu sehen? Er passt ja in kein Raster.

Er wird unterbewertet, denn er ist technisch viel stärker, als viele denken. Er ist technisch sogar herausragend. Dazu ist er ein Laufwunder. Ribery macht mal Pause. Müller ist aber immer dabei, jeden Angriff, immer. Deshalb schießt er seine Tore. Er ist, was wir gerade gesagt haben: beharrlich. Mega-Torinstinkt, schnell. Und dass es heißt, er habe so unorthodoxe Laufwege, liegt daran, dass er so viel läuft. Und obwohl er ein offensiver Freigeist ist, arbeitet er zurück. Er opfert sich unter Ancelotti, weil der ihm diese Wege aufbürdet und Müller sie auch macht. Ancelotti nimmt ihm dabei seine Stärken. Lewandowski arbeitet gar nicht mehr nach hinten. Müller wird da unfair bewertet.

Also unbezahlbar?

Für den FC Bayern, bei dieser Mentalität und noch dazu als Identifikationsfigur? Auf dem Zenit seiner Leistungsfähigkeit: Unbezahlbar! Wenn sie Müller gehen lassen, wären die Bayern haltlos betrunken.

Die Münchner Fußballschule

Es gibt Programme ab Vierjährige bis zum Profi. Feriencamps, Gruppentraining, Einzelschulungen, Kooperationen mit Vereinen (z.B. Gern, Poing, Baldham-Vaterstetten, Holzkirchen, Würmtal), Trainerschulungen, technische und athletische Ausbildung, sportliche Beratung, medizinische Betreuung – alles wird über einen Mitarbeiterstab von 40 hauptberuflichen Personen sowie 15 Partnern abgedeckt. Nähere Informationen über www.muenchner-fussball-schule.de. Einen Einblick in die Philosophie gibt es auch per Video unter www.mfsfussballtraining.tv. 

2 Gedanken zu „„Bayern fehlt es an Know-How bis hoch in die Spitze“

  1. Timo Özel

    Bezüglich des RAE macht der DFB Fortschritte. Als mein Sohn vor den Ferien beim Sichtungstraining war, wurde ganz klar gesagt, daß der RAE definitiv berücksichtigt wird. Das was ich in euren Blogs immer lese, daß in den NLZ zu 85 % der Spieler aus dem ersten Quartal eines Jahres stammen, ist dem DFB auch aufgefallen. Auch in den Auswahlmannschaften des DFB sind das Gros der Spieler aus dem ersten Halbjahr eines Jahres.

    Von daher fand ich es sehr interessant, daß beim Sichtungstraining auf diesen Punkt aufmerksam gemacht wurde. Mein Sohn stammt aus dem 3. Quartal und hat jetzt zumindest den Sprung auf den Stützpunkt geschafft.

    Antworten
    1. Michi Schuppke Beitragsautor

      Hallo Timo,

      das freut mich sehr für Ihren Sohn und ich hoffe, dass viele NLZs dem folgen und allen jungen Spielern eine gleich große Chance geben.

      Viele Grüße

      Michi

      Antworten

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert